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Sie sind in Besitz von Briefen, Tagebüchern oder Fotoalben aus der Kolonialzeit? Sie haben einen interessanten Archivbestand transkribiert und möchten diesen veröffentlichen? Dann sollten Sie mit mir Kontakt aufnehmen. Die »Quellen zur Kolonialgeschichte« werden in aller Regel ohne Kosten für Herausgeber*innen publiziert. 

Quellen sind die Grundlage für Geschichtsschreibung. Ohne Quellen keine Geschichtsschreibung, ohne Quellen keine Geschichte? Vielleicht kennen Sie die Diskussion um die Jahrhunderte 614 bis 911, die es scheinbar nie gegeben hat, weil Zeugnisse aus dieser Zeit zu fehlen scheinen– die Deutsche Stiftung Denkmalschutz hat in ihrer Plakatwerbung jüngst daran erinnert.

Die Verlagstätigkeit beschränkt sich auf Transkription, Aufarbeitung und Publikation kolonialhistorischer Ego-Dokumente wie Briefe oder Tagebücher als „Quellen, in denen Selbstwahrnehmung und Darstellung des historischen Subjekts in seinem Umfeld zum Ausdruck kommen“, wie es derzeit im Wikipedia-Eintrag fomuliert ist (s. Ego-Dokument). Ego-Dokumente, also im engeren Sinne freiwillig, im weiteren Sinn auch unfreiwillig zustande gekommene Selbstzeugnisse, sind seit langem in den Geschichtswissenschaften als valide Quelle anerkannt. Wenn Winfried Schulze fordert, Ego-Dokumente „sollten individuell-menschliches Verhalten rechtfertigen, Ängste offenbaren, Wissensbestände darlegen, Wertvorstellungen beleuchten, Lebenserfahrungen und -erwartungen widerspiegeln“ (1996, S. 28), dann erscheint das Tagebuch geradezu als Idealtypus eines Ego-Dokuments.

Dabei ist der Tagebuchschreiber aber nicht mit dem Protagonisten des Tagebuchs gleichzusetzen. Ein Umstand, dessen sich auch Lothar von Trotha bewußt war, wie wir aus seinem südwestafrikanischem Tagebuch wissen: „Neulich las ich in einem Buch „man ist im Augenblick, wo man etwas schreibt, aufrichtig[“]. O weh! Mein lieber Gorki, für wen ist es bestimmt? Das ist das Kriterium für die eigene Aufrichtigkeit. Glaubst Du an All das was Du schreibst ?!“ (Häussler/Eckl, 2024, S. 35). Die Figur, die uns im Tagebuch als Diarist begegnet, ist eine bewusst oder unbewusst inszenierte Figur, keine Person. Ähnlich wie bei retrospektiv verfassten Autobiografien oder Memoiren ist daher mit Selbststilisierungen, Ver(un)klärungen oder auch Verfälschungen zu rechnen, wie Andreas Rutz (2002, S. 12) betont: „Auch erfahrungsnah im Alltag entstandene Quellen, wie zum Beispiel Briefe oder Tagebücher, dokumentieren nicht unmittelbar das ‚Ich‘ ihrer Verfasser, sondern sind ebenfalls von einer Vielzahl von Brechungen und Verfremdungen geprägt: Zu nennen wären hier die mehr oder minder starke Anlehnung an literarische oder mündliche Vorbilder, die damit einhergehende (unreflektierte) Übernahme von Deutungen und Interpretationen der Welt und des eigenen Selbst sowie die Frage nach den jeweiligen Adressaten und den entsprechend variierenden Selbstcharakterisierungen, die etwa bei Briefen deutlich zum Tragen kommen kann.“

Die durch Erfahrung bedingte Kontinuität der Akzeptanz entgrenzter Gewalt als Mittel zum Zweck beispielsweise kann selbst dann handlungsleitend sein, wenn es sich dabei ‚nur‘ um „biographische Illusionen“ (Pierre Bourdieu) handeln sollte, um eine Selbstinszenierung oder erwünschte Selbstwahrnehmung. Mit den etablierten Methoden der historiografischen Quellenkritik betrachtet, eigenen sich so Tagebücher und Briefe bei aller gebotener Vorsicht in ganz besonderer Weise dazu, um „Wahrnehmungen, Befindlichkeiten, Erfahrungen und Deutungen“ (Rutz 2002, S. 10) des Schreibenden zu analysieren.

Bei der Analyse der Briefe deutscher Amerika-Auswanderer kommt Volker Depkat (2021, S. 281) zu dem Schluß: „Wie haben Historiker*innen den Quellenwert von Auswandererbriefen im Lichte dieser Befunde zu bewerten? Welche Rückschlüsse über die sich mit der Auswanderung verbindenden Erfahrungen erlaubt die Art der Kommunikation in den Briefen, die Auswandererinnen nach Hause schrieben? Die wohl wichtigste Antwort auf diese Frage besteht darin, dass diese Briefe nicht geschrieben wurden, um Historiker*innen farbenreiche Erfahrungsberichte über die Auswanderung oder konzise Analysen der USA als politischem und sozialem Phänomen der Moderne zu liefern. Auch schrieben die Auswanderer ihre Briefe offenbar nicht deshalb, um über Akkulturationsprozesse Auskunft zu geben oder um sich als Individuen in einem weltgeschichtlich bedeutsamen Prozess ihrer selbst zu vergewissern. Vielmehr spricht die hier formal freigelegte Art der Kommunikation in den Auswandererbriefen dafür, diese zunächst und vor allem als Spuren einer transatlantischen Familienkommunikation zu identifizieren, und zwar zwischen Familienangehörigen, deren Zusammenhang durch den Akt der Auswanderung selbst aufgelöst worden ist. Die ausgewanderten Briefeschreiber entwerfen sich weiterhin als Teil der Familie, die sie in Deutschland hinter sich gelassen haben. In ihren Briefen bleiben sie Söhne und Töchter, Brüder und Schwestern derjenigen, die noch in Deutschland leben, und in ihren Briefen versuchen sie eine intime Nähe und ein Beisammen-Sein zu imitieren, das de facto durch die Auswanderung selbst unmöglich geworden ist.“

Je nach Erkenntnisinteresse, persönlicher Prädisposition und Interessenlage des Lesenden mag der historiografische Wert von Ego-Dokumenten unterschiedlich veranlagt werden. „Inwieweit die aktenbasierte – und damit weitgehend eurozentristische – Geschichtsschreibung durch eine private und persönliche – ebenfalls eurozentristische – Memoirenliteratur und Aufzeichnungen sinnvoll bereichert werden kann“, so Jürgen Kempf (2023, S. III), „mag strittig erscheinen, aber nur letztere ermöglicht einigermaßen gesicherte Einblicke in persönliche und private Verhaltensweisen und Handlungsstrategien“. Fest steht: Auch Ego-Dokumente sind Quellen. Es kommt nicht nur darauf an, was sie enthalten, sondern auch, um bei dem Bild der Quelle zu bleiben, was wir aus ihnen schöpfen. Das Lesen von Briefen und Tagebüchern ist ein ebenso kreativer Akt wie es der des Schreibens war. Das ist die Polyvalenz der Quellen. Gäbe es diese nicht, bedürfte es keiner verbindlichen Methode für den Umgang mit historischen Quellen.

Ich habe behauptet, die Figur, die uns im Tagebuch als Diarist begegnet, sei eine bewusst oder unbewusst inszenierte Figur, aber keine Person. Schon allein von daher sollte bei individuellen Schuldzuweisungen auf Grundlage von Ego-Dokumenten große Zurückhaltung geübt werden. Tagebücher sind aber nun einmal von einer individuellen Person verfasst. Trotzdem wäre es in meinen Augen falsch, von einer individuellen Schuldzuschreibung ausgehen zu wollen, und anzunehmen, dass nur Einzelne so handelten, von denen wir es wissen, und aber alle übrigen, von denen ein entsprechendes Denken und Handeln nicht belegt ist.

Erklärungen für ein individuelles Verhalten primär in individuellen Eigenheiten des Schreibenden wie Charakter oder ähnlichem zu suchen wäre ebenso unzureichend, wie diese nur in allgemeinen Bedingungen und Strukturen suchen zu wollen, in denen sich mehr oder weniger alle Schutztruppensoldaten oder Kolonisten befanden, und die ein bestimmtes Weltbild und Handeln möglicherweise erklären oder doch plausibel erscheinen lassen. Als Herausgeber der »Quellen zur Kolonialgeschichte« ist es für mich irrelavant, ob etwa ein Georg Gräff ein besonders ‚böser‘ oder ‚grausamer‘ Mensch war. Das Anliegen ist nicht, den Autor*innen ein Denkmal zu setzten, es geht nicht um Gräff als Individuum und Person, sondern nur um den Soldaten Gräff, und um die Umstände, die sein und aller anderer Verhalten ausleuchten. So gesehen sollte Gräff und mit ihm andere Briefe- und Tagebuchschreiber durchaus als pars pro toto gesehen werden. Unrecht individuell nur denen anzulasten, die es begangen haben, ist bequem und einfach: Schiebt man die Schuld auf Einzelne, muss man sich mit dem Kontext nicht beschäftigen.

Lothar von Trotha selbst schrieb 1909: „Ich bin nicht der grausame Wüterich, als den mich die Herren Bebel und Ledebour [Abgeordnete der SPD] an die Wand des Reichstags gemalt haben“. Freilich, das, was Trotha persönlich zu verantworten hatte, ist derart unbegreiflich, wer mag sich da schon mit diesem Einwand auseinandersetzen. Aber doch verweist damit Trotha genau auf den Kern des Problems: Trotha hinterfragt seine individuelle Schuld bzw. widerspricht der Ansicht, dass die Gründe für sein Verhalten und seine Entscheidungen allein in seiner Person zu finden seien. Anderes also ist in seiner Perspektive entscheidend, die Gesamtsituation, die Umstände, der Zeitgeist, gesellschaftlich geteilte Werte, Normen und Anschauungen, es gibt viele Aspekte, denen ein gewisses Erklärungspotential für das Verhalten von Kolonisten zuzustehen ist: Propaganda (wie immer: die gerechte Sache!), Angst, angebliche Grausamkeiten von Seiten der Kolonisierten, Desillusionierung in Bezug auf Afrika, die Kolonie, die militärische Kraft des Gegners, Ohnmachtserfahrungen (vielfältiger Art), Militarismus, Sexismus, Rassismus, Gruppenzwang, und wahrscheinlich vieles mehr.
Diese und die vielen ungenannten Aspekte machen Ego-Dokumente zu den reichhaltigsten und vielschichtigsten Quellen einer kolonialen Vergangenheit. Sich damit lesend auseinanderzusetzen, ist eine Herausforderung – und ein Vergnügen, zu dem Sie herzlich eingeladen sind.

Literatur
Volker Depkat: Briefe deutscher Amerika-Auswanderer zwischen Text und Quelle. In: Volker Depkat & Wolfram Pyta (Hrsg.): Briefe und Tagebücher wischen Text und Quelle. Berlin, Duncker & Humblot, 2021, S. 263-282.
Deutsche Stiftung Denkmalschutz, <https://www.denkmalschutz.de/service/informationsmaterial/plakate.html>
Matthias Häussler & Andreas Eckl: Lothar von Trotha: Tagebuch aus Deutsch-Südwestafrika, 1904-1905. Quellen zur Kolonialgeschichte, Band 11, Bochum, Welwitschia, 2024.
Jürgen Kempf: Adolf Fischer. Offizier, Ästhet und Freigeist, Wanderer zwischen den Welten. Gaukönigshofen, Selbstverlag, 2023.
Andreas Rutz: Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion? Selbstzeugnisse als Quellen zur Erforschung des frühneuzeitlichen Menschen. In: zeitenblicke 1 (2), 20.12.2002, <http://www.zeitenblicke.historicum.net/2002/02/rutz/index.html>
Winfried Schulze: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung „Ego-Dokumente“. In: Winfried Schulze (Hrsg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Berlin, Akademie-Verlag, 1996, S. 11-30.

 

Eine Reportage der Allgemeinen Zeitung (Windhoek) vom 29. Juli 2024:

„Aus Leidenschaft für Geschichte“. Welwitschia-Verlag veröffentlicht Tagebücher aus Kolonialzeit.